Mein Horror-Tagebuch, Teil I
26. März 2019 - Dr. Uwe Schwichtenberg
Ein Kollege berichtete mir über eine Patientin mit starkem diffusen Haarausfall, die er über mehrere Monate betreute, und die ihren Umgang mit dem Haarausfall in Form eines Tagebuches niedergeschrieben hatte. Diffuser Haarausfall gilt in den Augen anderer Personen oft als Bagatelle, kann für die Betroffene aber einen physischen und psychischen Ausnahmezustand bedeuten. Man hat dann das Gefühl, man alleine sei betroffen und niemand sonst hätte so etwas schon mal erlebt.
Da wir als Ärzte wissen, dass dieses Phänomen sogar recht häufig ist, sind wir sehr dankbar für die Erlaubnis, das Tagebuch hier anonym als Hilfe für Frauen in der gleichen Situation veröffentlichen zu können.
Dr. Uwe Schwichtenberg
Vor-Weihnachtswoche Dezember 2018:
Inmitten einer riesigen Menge von Menschen bewege ich mich durch das Einkaufszentrum. Noch vor einer Woche hätte ich nicht für möglich gehalten, dass ich in diesem Jahr auch nur ein einziges Weihnachtspräsent selber kaufen würde.
Hinter mir liegen nämlich die schlimmsten Wochen, sogar Monate, meines 51-jährigen Lebens. Ich habe an extremem diffusem Haarverlust gelitten, der meine Optik verändert hat; daraus resultierend kam es zum Verlust jeglichen Selbstbewusstseins und zur sozialen Isolation. Ich habe die Situation bis vor wenigen Tagen als regelrechten Alptraum empfunden - obwohl ich bereits vorher jahrelang im Herbst Haarausfall geringeren Umfanges hatte.
Es gab mehr als einen Moment, an dem ich glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, ich komplett resignierte und ich einfach keine Lust mehr hatte.
Aber ich möchte meine Darstellung von vorne beginnen:
15. August 2018
Die Urlaubszeit soll üblicherweise die schönste Zeit des Jahres werden. Mich führte die diesjährige Sommer-Urlaubsreise mit Mann und zwei erwachsenen Söhnen auf die Mittelmeerinsel Malta. Ich kam hier allerdings bereits aufgrund verschiedener familiärer Belastungen, Arbeits- und auch Freizeitstress sehr angespannt an. Um bereits am folgenden Tag festzustellen, dass sämtliche Haare krank aussahen.
Ich schob dies in der gesamten Zeit des Aufenthaltes jedoch auf die starke Sonneneinstrahlung, die salzige Luft und das Wasser. Ich erstand noch am Urlaubsort verschiedene neue Shampoos, die lindernde Pflege versprachen. Dennoch wurde mir bereits bewusst, dass zahlreiche Haare ausfielen; hier war das normale Maß bereits überschritten. Ich versuchte aber, mich nicht darauf zu konzentrieren, um die freie Zeit genießen zu können. Aufgrund des Zustandes der Haare hegte ich aber bereits Bedenken, die Haare jeden Tag zu waschen, wie ich es zuhause üblicherweise tat. Ich hoffte zu diesem Zeitraum aber noch, dass sich dieses Problem spätestens in Deutschland wieder erledigen würde.
Ende August bis Anfang September 2018
Wieder zuhause angekommen, war ich schon sehr sensibilisiert und achtete extrem auf die Haare. Statt der erwarteten Besserung verschlechterte sich die Situation aber weiter. Ich suchte auch bereits meinen Arzt auf, den ich schon seit Jahren kannte. Ich nahm ein von ihm verschriebenes Präparat ein und versuchte, mir klar zu machen, dass der Ausfall abklingen würde. Da er sich aber weiter drastisch verschlimmerte und mein Arzt mir immer wieder sagte, dass medizinische Erfolge zeitlich erst verzögert eintreten können, fühlte ich mich andauernd schlecht. Dies belastete natürlich schnell meine Familie, da ich meine Schwierigkeiten oftmals thematisierte. Sobald ich Freunde oder Veranstaltungen besuchte, hatte ich den Eindruck, alle würden meinen Haarausfall bereits sehen. Auswirkungen hatte dies sogar auf meine dienstliche Tätigkeit, da ich mich nur noch schlecht konzentrieren konnte; ich griff mir permanent an den Kopf. Sobald ich ungewöhnlich viele Haare in der Hand hielt, suchte ich den Toilettenraum auf, um weiter an den Haaren zu ziehen und mein Aussehen zu kontrollieren. Nachdem mich eine Kollegin auf die vielen Haare auf dem Fußboden unseres Büros angesprochen hatte, suchte ich auch den Belag und die Möbelstücke ab.
Mitte September 2018
Bereits im September fühlte ich mich komplett nicht mehr in der Lage, meinen Arbeitsalltag zu bewältigen. In Besprechungen konnte ich zum Beispiel nicht mehr den Tagesordnungspunkten folgen. In dieser Phase begann ich auch akribisch, die ausgefallenen Haare zu zählen. Tage an denen ich unter einer Grenze von 200 Haaren verleben konnte, verliefen dabei noch einigermaßen "normal". Da ich aber immer häufiger weit größere Mengen von Haaren feststellte, sah ich keine andere Möglichkeit, als um Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu bitten. Ich erhielt diese mit der Diagnose eines akuten Erschöpfungszustandes.
Fortsetzung folgt
2019 | |
---|---|